Ein einzelnes rotes Auge öffnet sich, blinzelt einmal. Auf der anderen Seite des Vitrinenglases stehen rotbräunliche Kelche, Becher, Teller. Römisches Geschirr, die sogenannte Terra Sigillata. Seit 2000 Jahren nicht mehr benutzt. Noch gebannt von dem Auge, das mich unverhohlen anglotzt, wird mir bewusst, dass nach all der Zeit wieder Leben in die Vitrine gekommen ist. Der Kelch vor mir ist randvoll mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt. Ist es Wein? Für einen kurzen Moment bekomme ich Appetit. Und schon vergeht er mir wieder. Seltsame Gestalten entsteigen den Tiefen des Gefäßes: Skelette, unheimliche, tiefschwarze Knochenmänner, die mir scheinbar zuwinken. Ein Trommeln steigt mir in die Ohren. Die gruseligen Gerippe werden immer hemmungsloser, tanzen ekstatisch im und um das Gefäß herum, bis die Flüssigkeit in Fontänen durch die Gegend spritzt. Habe ich gerade gesagt, dass Leben in die Vitrine gekommen ist? Ich habe mich getäuscht. So lebhaft die Gestalten auch wirken, es sind die Untoten, die sich im Römermuseum im eigenen Blut ein grausiges Stelldichein geben.
Mein Schaudern hält sich trotz alledem in Grenzen. Keine unerklärlichen Vorkommnisse nachts im Museum. Ich betrachte das wilde Treiben vielmehr eher belustigt, mit dem Smartphone in der Hand. Ich weiß, was mich heute erwartet. Die 16 weiteren Personen, die an dem sonnigen Märzwochenende ins Museum gekommen sind, wissen es auch. Sie haben daran mitgewirkt, dass hier und heute erstmals die Skelette tanzen. Es ist der erste Testlauf einer App, die ab Ende 2022 Besucher:innen des LWL-Römermuseums neue Einblicke in das Leben als römischer Legionär im besetzten Germanien geben soll. Magische Einblicke.
„Magic Roads to Aliso“ heißt die digitale Anwendung. Mit ihr folgt man dem jungen Lucius, der sich der Lehre im Töpfereibetrieb seines Vaters überdrüssig der Legion anschließt und als Rekrut nach Aliso, ins römische Haltern, kommt. Der anfängliche Überschwang weicht schnell, als er mit dem harten Alltag und den Gefahren des Legionärslebens konfrontiert wird. An der Seite von Lucius werden Nutzer:innen der App schon bald erleben können, wie schwierig es für einen Heranwachsenden sein kann, in der Männergesellschaft der römischen Legion Anschluss zu finden. Sie erkunden aus der Sicht des Lucius römische Religion, treten mit ihm in Kontakt mit der fremden germanischen Kultur.
Entwickelt wird die Anwendung im Projekt „Blackbox Archäologie“; ein Verbundprojekt, in dem Mitarbeiter:innen des LWL-Römermuseums zusammen mit solchen des LWL-Museums für Archäologie Herne und des Deutschen Bergbau-Museums Bochum an insgesamt vier digitalen Anwendungen schrauben, mit dem Ziel, archäologische Praxis mit den besonderen Möglichkeiten digitaler Technologien noch anschaulicher und greifbarer zu vermitteln.