MAGIC ROADS TO ALISO

30.06.2022 Bianca Kühlborn

Eine neue Perspektive auf einen alten Terra-Sigillata-Kelch (Foto: LWL/ L.Vormann)

ERSTE TESTS DER NEUEN APP

Ein einzelnes rotes Auge öffnet sich, blinzelt einmal. Auf der anderen Seite des Vitrinenglases stehen rotbräunliche Kelche, Becher, Teller. Römisches Geschirr, die sogenannte Terra Sigillata. Seit 2000 Jahren nicht mehr benutzt. Noch gebannt von dem Auge, das mich unverhohlen anglotzt, wird mir bewusst, dass nach all der Zeit wieder Leben in die Vitrine gekommen ist. Der Kelch vor mir ist randvoll mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt. Ist es Wein? Für einen kurzen Moment bekomme ich Appetit. Und schon vergeht er mir wieder. Seltsame Gestalten entsteigen den Tiefen des Gefäßes: Skelette, unheimliche, tiefschwarze Knochenmänner, die mir scheinbar zuwinken. Ein Trommeln steigt mir in die Ohren. Die gruseligen Gerippe werden immer hemmungsloser, tanzen ekstatisch im und um das Gefäß herum, bis die Flüssigkeit in Fontänen durch die Gegend spritzt. Habe ich gerade gesagt, dass Leben in die Vitrine gekommen ist? Ich habe mich getäuscht. So lebhaft die Gestalten auch wirken, es sind die Untoten, die sich im Römermuseum im eigenen Blut ein grausiges Stelldichein geben.

Mein Schaudern hält sich trotz alledem in Grenzen. Keine unerklärlichen Vorkommnisse nachts im Museum. Ich betrachte das wilde Treiben vielmehr eher belustigt, mit dem Smartphone in der Hand. Ich weiß, was mich heute erwartet. Die 16 weiteren Personen, die an dem sonnigen Märzwochenende ins Museum gekommen sind, wissen es auch. Sie haben daran mitgewirkt, dass hier und heute erstmals die Skelette tanzen. Es ist der erste Testlauf einer App, die ab Ende 2022 Besucher:innen des LWL-Römermuseums neue Einblicke in das Leben als römischer Legionär im besetzten Germanien geben soll. Magische Einblicke.

„Magic Roads to Aliso“ heißt die digitale Anwendung. Mit ihr folgt man dem jungen Lucius, der sich der Lehre im Töpfereibetrieb seines Vaters überdrüssig der Legion anschließt und als Rekrut nach Aliso, ins römische Haltern, kommt. Der anfängliche Überschwang weicht schnell, als er mit dem harten Alltag und den Gefahren des Legionärslebens konfrontiert wird. An der Seite von Lucius werden Nutzer:innen der App schon bald erleben können, wie schwierig es für einen Heranwachsenden sein kann, in der Männergesellschaft der römischen Legion Anschluss zu finden. Sie erkunden aus der Sicht des Lucius römische Religion, treten mit ihm in Kontakt mit der fremden germanischen Kultur.

Entwickelt wird die Anwendung im Projekt „Blackbox Archäologie“; ein Verbundprojekt, in dem Mitarbeiter:innen des LWL-Römermuseums zusammen mit solchen des LWL-Museums für Archäologie Herne und des Deutschen Bergbau-Museums Bochum an insgesamt vier digitalen Anwendungen schrauben, mit dem Ziel, archäologische Praxis mit den besonderen Möglichkeiten digitaler Technologien noch anschaulicher und greifbarer zu vermitteln.

 

Mitglieder des Blackbox-Beirats tauschen sich über ihre Eindrücke aus. (Foto: LWL/ L.Vormann)

Die eigentlichen Hauptdarsteller:innen aber sind andere. Es sind genau jene Personen, die zum Testen ins LWL-Römermuseum gekommen sind, Mitglieder des 2021 gegründeten Blackbox-Beirats. Sie haben die Entstehung der Anwendung von Anfang an begleitet, nicht als stille Zuschauer:innen, sondern aktiv. In sogenannten Co-Creation-Workshops saßen Mitarbeitende der Museen und Beiratsmitglieder am selben, Corona-bedingt leider digitalen Tisch und haben gemeinsam Ideen gesammelt, ausgearbeitet, verworfen, verfeinert, bis am Ende das Konzept geboren war, das sie nun erstmals im Museum selbst erleben können.

Eine lange Entwicklung hat „Magic Roads“ bereits hinter sich. Und was weiterentwickelt wird, muss immer wieder kritisch begutachtet und hinterfragt werden. Das Testen liegt sozusagen in der DNA des Projektes. Moco S. weiß das gut. Er vertritt den digitalen Partner im Projekt, die Neeeu Spaces GmbH aus Berlin. Er ist in diesen Tagen dauerhaft auf den Beinen, beobachtet genau, wie sich die Tester:innen durch das Museum bewegen, notiert sich akribisch jedes Detail.

Helen N. und Moco S. während eines Testlaufs (Foto: LWL/ L.Vormann)

Helen N. hat gerade das Marschgepäck eines Legionärs geschultert und erlebt dadurch hautnah, welche “Verantwortung” nun auf dem jungen Rekruten Lucius lastet. Doch wohin mit dem Smartphone, während beide Hände voll beansprucht sind? Moco zückt einen weiteren Post-it und schreibt. Das muss unbedingt noch bedacht werden. In seiner Hand stapeln sich bereits die Zettel mit handgeschriebenen Notizen. Sie sind die klebrige, aber kostbare Substanz, auf der die weitere Entwicklung der App nach diesen Tests aufbauen kann. Viele Fragen stellen sich ihm und seinem mitgereisten Kollegen Lutz R.: Funktionieren die Übergänge von einer Station zur nächsten? Wo geraten die Nutzer:innen ins Stocken? An welchen Stellen sind sie noch orientierungslos? Jedes einzelne Beiratsmitglied begleiten die beiden an diesen zwei Tagen auf ihren jeweiligen “Magic Roads” nach Aliso, suchen den Austausch, hören genau zu. In der kreativen Atmosphäre des auf neuen Wegen beschrittenen Museums entstehen im Dialog neue Ideen praktisch im Minutentakt: “Was wäre wenn … ? Könnte man nicht noch …?” Mocos Handstapel wird noch weiter wachsen.

Am Samstagmittag hat schließlich das vorerst letzte Skelett die knochigen Hüften geschwungen. Blackbox-Praktikantin Laura V. führt noch abschließende Interviews mit Beteiligten. Dann ist der Spuk erst einmal vorüber. Einige Monate Entwicklung stehen der App noch bevor, ehe alle interessierte Besucher:innen des LWL-Römermuseums die Welt der Legionäre in Haltern vor 2.000 Jahren mit “Magic Roads to Aliso” neu entdecken können.

Ich kann diese nächsten Schritte kaum erwarten. Neugierig durchforste ich bereits jetzt die Fragebögen, die alle Tester:innen ausgefüllt haben und stelle fest, dass es ihnen ähnlich geht. Der Wissenschaftler in mir freut sich, dass fast alle sogar gern noch mehr über die historischen Umstände wüssten. Es ist von Immersion die Rede, vom Eintauchen in die neue Welt, die sich Lucius offenbart. Auch von einem Hörspiel, das sich im Raum entfaltet. Die Kritik der Beiratsmitglieder wird uns helfen, die App in den nächsten Wochen und Monaten mit ihnen an unserer Seite weiter zu optimieren. Die vielen positiven Bemerkungen wirken bereits jetzt ganz unmittelbar. Das Blackbox-Team hat offenbar den richtigen Weg eingeschlagen. Mal sehen, wo er noch hinführt… Vale, Lucius! Wir werden uns schon bald wiedersehen.

Matthias J. Bensch

Gefördert im Programm Kultur Digital der Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.