Ein großes Staatsamt überstrahlt oft alles, was im Leben einer Person davor war: Wer erinnert sich schon an die Zeit Konrad Adenauers als Oberbürgermeister von Köln, außer den Menschen in Köln vielleicht? Kaum jemand spricht über den Winston Churchill vor dem Zweiten Weltkrieg.
Nicht anders erging es Tiberius, dem zweiten Kaiser des Römischen Reiches (Regierungszeit 14-37 n. Chr.). Zu seinem Pech – das Pech verfolgte ihn zeitlebens – wirkte sich dies aber anders als bei Adenauer oder Churchill keineswegs positiv auf sein Bild in der Nachwelt aus. Die Fußstapfen seines Vorgängers Augustus, der die Zeit der Bürgerkriege beendet und den Prinzipat – eine einzigartige Staatsform, die einer faktische Alleinherrschaft einen republikanischen und so weitaus akzeptableren Anstrich verlieh – aus der Taufe gehoben hatte, waren zu groß.
Zweifellos bemühte Tiberius sich, und eine genauere Betrachtung seiner Regentschaft zeugt von einer effektiven und gewissenhaften Verwaltungspraxis, die das tradierte Bild von ihm Lügen straft. Aber es gelang ihm nicht, in der Herrschaftskommunikation Anschluss an seinen Stiefvater und Vorgänger zu halten. Als er Rom 26 n. Chr. den Rücken kehrte und seinen Regierungssitz nach Capri verlegte, war dies der Todesstoß für seinen ramponierten Ruf.
Die stadtrömische Bevölkerung und die senatorische Geschichtsschreibung dankten es ihm mit einer an Rufmord grenzenden Ansammlung von Gerüchten und Schauergeschichten, die das Bild eines unfähigen, menschenscheuen, grausamen und ganz seinen fleischlichen Gelüsten verfallenen Herrschers zeichnen. Süffisant breitet der Geschichtsschreiber Sueton in seiner rund einhundert Jahre später entstandenen Vita des Tiberius alle möglichen angeblichen charakterlichen Verfehlungen des Kaisers aus und beschuldigt ihn zahlreicher ebenso verkommener wie fantasievoller Sexualpraktiken (wen die Details interessieren, sei Suet. Tib. 43-45 ans Herz gelegt). Es ist wichtig zu betonen, dass es sich dabei zum größten Teil um Fiktion handeln dürfte, die als vage Gerüchte in der den Tratsch liebenden römischen Bevölkerung kursierte und die als typisches Mittel fungierten, Unzufriedenheit zu artikulieren. Dieses in den Jahren seiner Regentschaft und der historischen Rückschau entstandene Tiberiusbild überdeckt den Tiberius vor dem Jahr 14 n. Chr. fast völlig – und das zu Unrecht!
Aufstieg im Schatten des Stiefvaters
Als er mit 55 Jahren Kaiser wurde, blickte Tiberius bereits auf ein bewegtes Leben zurück. Er konnte nicht wenige Verdienste sein Eigen nennen und war keineswegs unbeliebt. Er war 42 v. Chr. mitten in den Wirren der Bürgerkriege geboren worden. Sein Vater, der Senator Tiberius Claudius Nero, stand zweimal auf der Verliererseite und unterstützte zunächst die Partei der Caesarmörder, dann die des Antonius. Mit Glück überlebte er beide Fauxpas, allerdings wurde er bald darauf vom siegreichen Octavian, dem werdenden Kaiser Augustus, zur Scheidung von seiner Frau Livia Drusilla gedrängt. So wurden Tiberius und sein jüngerer Bruder Drusus zu Stiefsöhnen des neuen starken Mannes in Rom.
Es wurde zu einem bedeutenden Element bei der behutsamen Etablierung der noch labilen Alleinherrschaft, militärisches Prestige ganz auf die Familie des Kaisers zu konzentrieren und so potentiell konkurrierende Familienverbände politisch kaltzustellen. Dieser Umstand ermöglichte Tiberius und Drusus eine außergewöhnliche Karriere als Feldherrn. Beide erwiesen sich dabei als außerordentlich erfolgreich. Tiberius sammelte Erfolge in Hispanien, Armenien, im Alpenraum sowie in Pannonien (im heutigen Ungarn gelegen). Drusus eroberte ab 12 v. Chr. das rechtsrheinische Germanien bis zur Elbe, starb allerdings 9 v. Chr. infolge eines Reitunfalls.
In den Folgejahren 8 und 7 v. Chr. übernahm Tiberius den Oberbefehl in Germanien – ein Amt, das er noch zwei weitere Male bekleiden sollte: von 4-6 n. Chr. und nach der Varuskatastrophe von 9-12 n. Chr.
Tiberius in Germanien
Während dieser drei – vier rechnet man die Eroberung des Alpenvorlandes 15 v. Chr. hinzu – Aufenthalte in Germanien hinterließ Tiberius seine Spuren. Der ihm positiv gegenüber eingestellte Geschichtsschreiber Velleius Paterculus, der als Militärtribun mit Tiberius in Germanien war, berichtet, Tiberius habe Germanien während seines ersten Oberbefehls in den Zustand einer beinahe tributpflichtigen Provinz überführt (paene stipendiariae redigeret provinciae, Vell. 2,97,4). Dies ist zwar wahrscheinlich etwas übertrieben, zeugt aber von der Absicht der Römer, das militärisch erschlossene Gebiet dauerhaft verwalterisch zu durchdringen. Es ist gut möglich, wenn auch nicht gesichert, dass die Errichtung des fest ausgebauten Militärlagers in Haltern (das sogenannte Hauptlager zur Unterscheidung von den früher an selber Stelle bestehenden Feldlagern) Teil dieser Bestrebungen zur Provinzialisierung war.
Über Tiberius‘ zweiten Oberbefehl in Germanien (4-6 n. Chr.) berichtet Velleius, die Legionen hätten erstmals im rechtsrheinischen Gebiet ihr Winterlager bezogen, und zwar in den Lagern entlang der Lippe (Vell. 2,105,3). Der archäologische Befund legt nahe, dass das Halterner Lager zu dieser Zeit als Operationsbasis der 19. Legion diente. Das Gebiet wurde von dort an offensichtlich als militärisch so weitgehend befriedet betrachtet, dass auch Mitgliedern anderer senatorischer Familien der germanische Oberbefehl offenstand. Das bekannteste und tragischste Beispiel ist Varus, der 9 n. Chr. in der nach ihm benannten Schlacht drei Legionen verlor. Die Benennung der Schlacht ist übrigens mustergültiger Schachzug augusteischer Propaganda: Sie konzentriert die Verantwortung bei Varus und lenkt sie so von der kaiserlichen Familie ab.
Den nachhaltigsten Einfluss für Germanien erwirkte Tiberius allerdings wahrscheinlich nicht in seiner Zeit vor Ort, sondern diktierte ihn 16 n. Chr. als Kaiser von Rom aus. Damals befahl er den Abbruch der von seinem Neffen Germanicus durchgeführten, erneuten rechtsrheinischen Feldzüge und verzichtete damit endgültig auf die Gebiete rechts des Rheins.
Der Unterschätzte
Tiberius war kein Mensch, dem die Herzen seiner Mitmenschen zuflogen. Dass er Kaiser wurde, verdankte er nicht seinem Ehrgeiz oder Charisma, sondern dem Umstand, dass alle anderen, von Augustus teils sehr offen bevorzugten Kandidaten zu früh verstorben waren. Er war als einziger übrig. Die schlechte Presse, die er sich als Kaiser teils zu Unrecht einhandelte, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tiberius vor 14 n. Chr. über Jahre eine der wichtigsten und loyalsten Stützen des augusteischen Prinzipats gewesen ist. Und auch wenn es nicht das ist, womit er zumeist assoziiert wird, war Tiberius zweifellos ein Mann, der in Germanien seine gewichtigen Spuren hinterließ.
Wer noch mehr über Tiberius und sein Leben erfahren möchte, dem sei die Biographie von Holger Sonnabend ans Herz gelegt (Sonnabend, Holger: Tiberius. Kaiser ohne Volk, Darmstadt 2021).